Bremen Coverbild

Der Melancholiker Bremen blüht erst nach dem Tod auf. In den letzten Lebensjahren widmet er sich seiner Obsession: der abstrusen und heillosen Umgestaltung seiner Wohnung. Statt sich zu freuen, dass eine junge Frau seine Nähe sucht, lebt er in der Überzeugung der geborene Einsiedler zu sein.

Die neue Erzählung Gerd de Bruyns bietet eine Art Psychopathologie der modernen Architektur. Franz Bremen ist ein von Zwangsneurosen und religiösen Wahnvorstellungen getriebener Mensch. Ein unbeirrbarer Ordnungsfreak, der die Stellung der Möbel und Verläufe sämtlicher Linien, Ecken und Kanten im Raum millimetergenau kontrolliert. Konterkariert werden seine Handlungen durch eine mysteriöse Tierliebe, die ihm unbewusst bleibt. Erstaunt registriert er, dass er seinen einzigen und wichtigsten Rückzugsort mit immer mehr Untermietern teilen muss.

Bremens letzte Jahre (im Himmel und auf Erden) folgt auf die Erzählung Das mächtige Häuflein (2016) und das Rockermärchen Erlenbruch (2019). Der Autor nennt sein Buch einen Roman, obschon es nicht umfangreicher ist als die Vorgänger. Auf Illustrationen wurde diesmal verzichtet, stattdessen finden sich im Anhang Proportionsstudien und andere Zeichnungen, die der Hauptperson zugeschrieben werden. Trotz Gattungsunterschieden bilden die drei Bände ein Ganzes: die Abfolge von Jugend (Erlenbruch), Erwachsensein (Häuflein) und Alter (Bremen).

 

Paperback
ISBN: 978-3-928249-85-0
176 Seiten, 12 x 19 cm – 12,90 €
33 Zeichnungen in Farbe
eBook
ISBN: 978-3-928249-86-7
7,99 €

Wolfgang Bachmann schreibt zu “Bremens letzte Jahre” in marlowes:

Wenn (Natur-)Wissenschaftler nach dem Abschluss ihres Berufslebens belletristisch arbeiten, bringen sie eine gute Voraussetzung mit: Sie können exakt beobachten und analysieren. Großartig, wenn sie auch noch über Sprachgefühl und eine ironische Begabung verfügen. Bei Gerd de Bruyn trifft das alles zu.

Mit diesem Buch beschließt Gerd de Bruyn, vormals Leiter des igma (Institut für Grundlagen Moderner Architektur) in Stuttgart, den Dreisatz erzählter Lebensabschnitte über Jugend und Erwachsensein mit einer Altersgroteske – man findet den Spaziergänger Franz Bremen (58) tot in schäbiger Kleidung krumm und quer auf einem Weg liegend. Man könnte dieses Ereignis als endliche Befreiung vom eingesperrten Dasein oder auch als Auftakt ewiger Sündenstrafen betrachten, denn es konterkariert drastisch sein kauziges Leben.

Bremen war ein Pedant, der sich bei gleichzeitiger Verwahrlosung seiner Umgebung eine präzise Ordnung installiert hatte. In seiner Wohnung mussten sich die unverrückbar fixierten Möbel präzise an Fluchtlinien halten, und damit sie dieser rechtwinkligen Räson folgen konnten, hatte er sogar ihre Fronten geglättet und Profile, Leisten und störende Konturen entfernt. Natürlich fallen einem zur Warnung Architektenkollegen ein, denen man irgendwann begegnet ist, vielleicht handelt es sich bei Bremens Marotten für ein „Kunst- und Lebensreformwerk“ auch um die fehlgeleitete Ambition, mit der Ludwig Wittgenstein das berühmte Haus für seine Schwester entworfen hat.
Als Beruf gab Bremen den altertümelnden Begriff „Geometer“ an, seinen Unterhalt bestreitet er jedoch aus der bescheidenen Lebensversicherung seiner verstorbenen Frau. Er geht ins Café Schumann und trifft sich mit einem Debattierzirkel in den Wielandstuben, doch pflegt er keine Freundschaften und wird zum Ausgleich rätselhaft von allerlei Getier heimgesucht. Einer Verführung durch eine Kaffeehausbekanntschaft weiß er sich zu entziehen. Man darf sicher sein, dass de Bruyn neben den Seitenblicken auf die Architektur seinem Bremen einiges mitgegeben hat, was ihn selbst lästig begleitet: der Dudelfunk des Radioprogramms, die alberne Hampelei des Tanzens oder der Gruppenzwang verordneter Freizeitbetätigungen. Viel ereignet sich nicht in der knappen Geschichte, man hätte sie gut mit einem zweiten spannenden Erzählstrang verschneiden oder die Handlung ins Absurde zuspitzen können. Aber manchmal mag man sich als Leser auch gerne der Nahaufnahme eines Hintergrundrauschens widmen.

Gedanken zu “Bremens letzte Jahre”:

„Die Selbstverwirklichung der mittleren Lebensjahre ist von allgemeinem Scheitern und spurenarmem Vergehen umflort, Alter und Jugend bilden die Symmetrie der individuellen Suche jemand zu sein. Bürgerliche Sinnfindungen (Aufbau von Strukturen, Aufzucht von Kindern, Geld, beruflicher Positionskampf) sind Randnotizen oder kommen nicht vor. Die Entspannungsbedürfnisse aller auftretenden Charaktere, besonders zu sein dürfen ohne beeindrucken zu müssen, bilden enorme gegenseitige Anziehungskraft. Und so verkörpert das auftretende Sammelsurium von Charakteren gleichermaßen uneitle wie skurrile Wahrheiten menschlicher Innenwelten und Begegnungsweisen. Ich habe vor ein paar Jahren den Film ‘Finsterworld’ gesehen, der eine ähnliche Atmosphäre ausstrahlte, indem er allen Personen ein Grundrecht auf Beklopptheit zugestand, das zwar beständig am Rande psychiatrischer, hier sogar krimineller Kategorien vorbeijonglierte, aber voller Respekt zugestanden wurde. Oder ich erinnere mich an Figuren bei Tschechov oder Gontscharov, vordergründig unbedeutende Menschen, die statt komplett zu verzweifeln ihrem Leben Bedeutung durch ein Recht auf Eigenwilligkeit abtrotzen. Aber auch die Chancen der Erlösung stur verweigern. Dieses Recht auf Eigenwilligkeit/Sonderlichsein wird auch sprachlich/kompositorisch in Anspruch genommen, indem der Erzähler sich vordergründig undiszipliniert beständige Perspektivwechsel erlaubt, zwischen Jargon und Analyse, Humor und Wehmut schwenkt, eine Szenenfolge Roman nennt, Klischees des Spannungsaufbaus benutzt, um sie dann wieder zu zerstören, usw. Wenn das Ende so einsam und banal ist, wie soll man dann auf einen übergeordneten Bedeutungshorizont vertrauen? Der Sinn ist dann sinnfreies Handeln und Denken. Und aus beständiger vordergründiger Schwäche ist ein sonderbarer Magnetismus entstanden, weil aus dieser Sinnfreiheit der Kern allen transzendentalen Suchens wiederklingt: die Liebe.” (Thomas Nebel, Köln)

 

Am 31. Juli 2020 schrieb “Kabau52″ bei amazon über “Bremens letzte Jahre”:

Während Andreas Maier mit seiner Recherche aus der hessischen Wetterau Buch für Buch liefert und in kleinstteiliger und bisher unabsehbarer Folge vorgeht, hat sich Gerd de Bruyn auf einen klassisch wirkenden Dreischritt beschränkt: ein Leben in den Post-68er-Intellektuellen-WG-Milieus Frankfurts (“Das mächtige Häuflein”). Danach erschien die Pubertät und frühe Jugend als Möchtegern-Easy-Rider (das Rockermärchen “Erlenbruch”). Und jetzt das Finale eines in eigener Gestaltungs-Verrücktheit endenden Sonderlings namens Bremen. Eine Trilogie der fortlaufenden Lebens-Verklausurierung in lakonisch und gestellt einfachem Stil zwischen mal präziser und leuchtender Satzgestalt, mal dürrer Eindrucksregistrierung.
Der vergrätzte Eremit Bremen in seiner versumpften Wohnhöhle mit festgeschraubten Möbeln und klemmendem Beziehungsversuch. Und einem orphischen Ende in der Sphäre schwebender Geister. Wer Henscheids “Vollidioten-Trilogie” mag, dürfte hier mit spätem und abgespecktem, leichtgängigem Nachwuchs beschäftigt sein. Und wenn man zunächst das Rockermärchen “Erlenbruch”, sodann das “Mächtige Häuflein” und zuletzt “Bremens letzte Jahre” liest, könnte das eine eigentümliche Wunschlos-Biografie sein.